Dieser Beitrag ist Christel Pahl und ihrem Ehemann Ulli aus Rädigke gewidmet.
Aus den Erinnerungen des Sohnes
Im folgenden geht es um die bebilderte Geschichte des Superintenden Günter Krolzig unmittelbar nach Ende des 2. Weltkrieges an der St. Johanneskirche zu Niemegk aus der Sicht seines Sohnes Martin Krolzig.
Lothar Graap und Günter Krolzig
vor St. Johannis
Alle hier gezeigten schwarz-weiß Aufnahmen aus der Niemegker Zeit meines Vaters Günter Krolzig (1903-1979) sind Kopien aus einer Broschüre, die ich im März 2016 von Lothar Graap geliehen bekam.
Das war in den Tagen, als die Flüchtlings–Debatte von befremdlich zu widerlich mutierte. Von den Bildern erfuhr ich dankenswerter Weise zuerst von dem derzeitigen Niemegker Pfarrer Daniel Geißler. Vollständig stellte sie mir dann der Niemegker Kantor von 1954-1957, Komponist und spätere Kirchenmusikdirektor Lothar Graap zur Verfügung.
Die Bilder entstanden überwiegend 1953. Da war ich zwölf Jahre alt, jetzt bin ich 75. Bedingt durch den zeitlichen Abstand ist es sicherlich erklärlich, dass ich mich an einige der abgebildeten Personen nicht mehr erinnern kann. Wenn Sie, verehrte Besucher dieser Seiten, den einen oder anderen erkennen, dann lassen Sie es mich bitte wissen.
Der letzte Superintendent
Seit 1941 amtierte mein Vater als Pfarrer in Niemegk, siedelte aber erst 1943 aus dem 6 Km entfernten Rädigke in die Kleinstadt am Fläming um. Zum Militär wurde er nicht eingezogen, erstaunlicherweise wie auch seine beiden Brüder.
Günter Krolzig wurde als letzter Pfarrer durch das Berliner Konsistorium zum Superintendenten des Kirchenkreises Niemegk ernannt. Man begegnete ihm seitens der Kirchenleitung nach Kriegsende 1945 mit Vorbehalten, ob er womöglich zu den anrüchigen Deutschen Christen im Gefolge der Nazis gehört habe.
Die Flüchtlinge
Im Bild von links nach rechts:
Lothar Graap, meine Mutter Erika Krolzig, Edith Rum und Klaus Immer; der spätere SPD-bundestagsabgeordnete; bald nach der Aufnahme heirateten die beiden.
Nach Kriegsende war vor allem eine Mutter gefordert. Ein Flüchtlingstreck nach dem anderen strömte durch die Ackerbürgerstadt. Der Zustand der Menschen war erbärmlich. Im verlorenen Osten hatten sie die Hölle erlebt; wo sie hinkommen würden stand in den Sternen. Aber sie mussten versorgt werden! So kochte meine Mutter täglich für mehr als 100 Menschen vor allem Suppe in einem alten Waschkessel. Die bestand überwiegend aus Maismehl, das niemand kannte, und Rosinen. Die Zutaten stammten von Christen aus den USA. Irgendwann ähnelte unser Haus einem Materiallager. Sogar Schuhsohlen und -absätze waren verfügbar. Meine Eltern, beide waschechte Berliner Großstädter, waren in keiner Weise auf eine solche Situation vorbereitet. Die Mischung aus Improvisationstalent und Gottvertrauen ließen beide durchhalten.
In dieser Zeit sah der Junge auch seine ersten Toten. Es war ein Zwillingspaar, das in der Kirche aufgebahrt wurde. Die Eltern mussten am Tag darauf weiterziehen.
Beschädigte Kirche
Die St. Johannes Kirche war äußerlich relativ unbeschädigt. Allerdings war keine Scheibe mehr ganz. Das Kreuz, das den Turm auch heute noch krönt, hing allerdings so in einer Brüstung, dass man mit seinem Absturz jederzeit rechnen musste. Um Niemegk fanden im April 1945 die letzten Kämpfe vor dem Fall Berlins statt.
Die waren ziemlich heftig. Wahrscheinlich vermuteten die sowjetischen Truppen in dem weithin sichtbaren Kirchturm deutsche Kampfbeobachter. Deshalb beschossen und trafen ihn die russischen Artilleristen.
Keine Ahnung, wie mein Vater das schaffte: Jedenfalls war die Kirche in relativ kurzer Zeit wieder vollständig verglast. Selbst wenn man das Geld gehabt hätte: zu kaufen gab es nichts. Das war einmal der Nachkriegssituation geschuldet, aber zum anderen dem gesellschaftlichen Umbruch. Die alte Verwaltung bestand nicht mehr. In der sowjetisch besetzten Zone hatten jetzt die Kommunisten das Sagen. Besonders kirchenfreundlich waren sie nicht, aber in Niemegk lebte man irgendwie schiedlich/ friedlich nebeneinander her. War es jedoch möglich, ging man sich aus dem Wege. Um meine Mutter noch einmal zu erwähnen: Sehr schnell begann sie die Schulkinder in Religion zu unterrichten. Nicht in der Schule – da war das in der neuen Zeit nicht mehr möglich- sondern in einem Raum, genannt Schafstall, neben unserem Haus. Wenn es sein muss spielte, sie auch Sonntags im Gottesdienst die Orgel.
Bis zur Jahrhundertfeier 1953 entstand so das Innere von St.Johannis zu Niemegk wie es sich noch heute den Besuchern zeigt.
Das Kriegerdenkmal
Ob sie den Knall wirklich nicht gehört haben? Der Verein für historische Bauten in Niemegk e.V. stellte ernsthaft die Frage:
»Soll Niemegk sein Kriegerdenkmal von 1900 wieder bekommen?«
Auch der bemühte Chronist der Kleinstadt, Siegfried Dalitz, bringt ein Bild des alten Denkmals in seinem Werk. Er berichtet korrekt, dass sich seine Teile jetzt in der Johannskirche befinden. Doch deren Schwelle scheint er nicht übertreten zu haben, um sie dort in Augenschein zu nehmen. Deshalb changiert sein Bericht über den gegenwärtigen Zustand zwischen ungenau und falsch. Bedauerlich ist auch, dass er nur von “einem Steinmetz” spricht und nicht den Namen Erich Kahl nennt. Immerhin ist der ein bedeutender Sohn seiner Heimatstadt Niemegk.
Das Ensemble des alten Kriegerdenkmals befindet sich dekonstruiert in der Johanneskirche. Um das zu verstehen, muss man ein wenig ausholen. In der französischen Literaturwissenschaft ist Dekonstruktion ein bekanntes Stilmittel, um alte Texte ganz neu zu sehen und zu verstehen. Wie das ganz praktisch aussieht, macht u.a. das moderne Regietheater sichtbar. Nun kann man besagtes Stilmittel auch auf alte Denkmäler anwenden. Es ist hier zunächst ein revolutionäres und zerstörerisches Werk. Dafür ist im Falle des Kriegerdenkmals in Niemegk mein Vater verantwortlich; der metallene Kämpfer oberhalb des Steinsockels war bereits durch die Kampfhandlungen des 2. Weltkrieges zerstört worden.
Die Metalltafel, die an die Toten des Krieges 1870/71 erinnerte; wurde in die Kirche überführt. Ebenso die beiden Steintafeln rechts und links von dem Kriegerdenkmal. Auf denen befanden sich die Namen der im Ersten Weltkrieg 1914-1918 getöteten deutschen Soldaten aus der Kleinstadt am Flämig. So sind sie noch heute im Vorraum hinter der rechten Eingangstür zu sehen. Sogar mit dem entsprechenden Stahlhelm davor.
Blieb der gewaltige Steinsockel. Krolzig traf am Ort den Steinmetz Erich Kahl. Der zersägte den gewaltigen Brocken aus rotem Sandstein in einzelne Teile. Eine Steinplatte wurde aus dem gewaltigen Sockel herausgeschnitten und hinter der rechten Eingangstür angebracht. Auf der befinden sich die Namen der im Zweiten Weltkrieg getöteten Niemegker Soldaten. Mit einer bemerkenswerten Abweichung: Die Namen mehrer Frauen sind hier unter lauter Männern für alle Zeiten in Stein gemeißelt. Wer waren Elisabeth Textor geb. Schulz, Edith Olbricht, Hannelore Olbricht, Maria Olbricht geb. Riemann? Was war ihr Schicksal bei Kriegsende 1945? Es bleiben brennende, unbeantwortete Fragen.
Bemerkenswert ist auch die Zeitachse des Gedenksteins: Sie endet nicht mit dem Ende der Kampfhandlungen 1945 sondern erst im Jahre 1949. Auch die Vermissten sind aufgeführt. Die Überschrift lautet »Unsere Opfer«. Im gleichen Raum ist links an der Wand die alte Metallplatte mit den Namen der im siegreichen Krieg 1870/71 (es war Deutschlands letzter) Gefallenen angebracht.
Was meinen Vater zu dem Akt bewegt hat, weiß ich natürlich nicht. Begriff und Definition von Dekonstruktion konnte er noch gar nicht kennen. Aber die Sache selbst traf er. So kann man noch heute in der Niemegker Kirche auf die Namen der Toten aus den letzten Kriegen treffen. Ich vermute, dass mein Vater hellsichtig war. Es gehörte allerdings nicht viel dazu sich auszumalen, wie der neu entstehende kommunistische Staat mit derartigen Denkmälern umgehen wird. Der Letzte begriff es Jahre später, als die Ruinen des Berliner Stadtschloss gesprengt wurden. Indem die einzelnen Teile in die Kirche überführt wurden, waren sie dem Zugriff des Staates entzogen. Noch brisanter war die Schaffung eines Denkmals mit den Namen der gefallenen Soldaten aus dem 2. Weltkrieg. So waren sie nicht mehr ein anonymer Teil der »faschistischen Horden«, die in die Sowjetunion eingefallen waren. Hier sind sie Opfer – wie die Überschrift festhält.
Von dem Steinblock vor der Kirche blieben noch einige gewaltige Brocken übrig. Daraus wurden der Taufstein und das Lesepult gemeißelt. Man kann, ja muss das Ganze als Gesamtkunstwerk verstehen. Der Kenner weiß, dass der Begriff vor allem mit der Musik Richard Wagners verbunden ist. Zu deren Kennern und Bewunderern, das sei erwähnt, gehörte auch mein Vater. Verzückt spielte er immer wieder dessen Melodien auf einem Harmonium, wobei seine Familie auf freundlich – spöttischer Distanz blieb.
Gerhard Olbrich
Undenkbar, daß mein Vater Günter Krolzig den Maler Gerhard Olbrich entdeckt hat. Beim Kunstdienst der evangelischen Kirche war er sicher als Schüler des Schweizer Willi Fries bekannt
Nach Niemegk hat ihn mein Vater wohl durch Vermittlung von Baurat Wendland geholt. Die Anregung dazu geht mit Sicherheit Bischof Dibelius zurück, der der Kirche das Altarbild stiftete. Das alles erwies sich als Segen für die neugotische St. Johannes Kirche wie für den Künstler selbst. Wo können denn schon zwei Menschen, also ein Pfarrer und ein Maler, einer ganzen 100-jährigen Kirche eine moderne Prägung geben. Hier von einem Gesamtkunstwerk zu sprechen scheint mir nicht unangemessen zu sein.
Betritt der Besucher die Kirche durch die mittlere Tür, sieht er rechts und links die beiden Johanisse, den Täufer wie den Evangelisten, auf Putz gemalt. Olbrichs Stilmittel sind bereits hier zu erkennen. Die Gestalten sind in weite, antikisierende Gewänder gehüllt. Die verhindern die Ablenkung vom Wesentlichen. Das sind die Gesichter. Der Täufer erscheint als nüchterner, bodenständiger Bauer und der Evangelist als feingliedriger Intellektueller. Man muss gar nicht um ihre Symbole wissen, um sie sofort zu erkennen.
Betritt man die Kirche, fällt der Blick sofort auf das Altarbild. Ist es geöffnet – es handelt sich um einen traditionellen Flügelalter – erkennt der Besucher als erstes auf den drei Teilen sofort wieder jene Gewänder. Er muss näher treten, um die Gesichter in ihrer Differenziertheit genau zu erkennen.
Olbrich hat für den Altarraum sowohl den Taufstein als auch das Lesepult geschaffen. Auch hier ist die Handschrift des Künstlers deutlich zu erkennen, die so ein einheitliches Ensemble geschaffen hat. Zur Jahrhundertfeier 1953 waren die bunten Glasfenster noch nicht installiert, aber wohl schon im Entwurf festgehalten.
Will der Besucher sich umdrehend schnellen Schrittes die Kirche verlassen, wird sein Blick nach rechts und links zu den bunten Glasfenstern mit den christlichen Symbolen gelenkt. Auf jeden Fall muss er seinen Schritt verlangsamen. Jene Symbole sind so schlicht und einfach gehalten, dass man gar nicht unbedingt näher treten muss, um ihre Botschaft zu verstehen.